Progressive Newsletter nr. 69 Interview – July 2010 (DE)

Eben nicht nur auf den elektronischen Bereich beschränkt
 
Zwei seiner Alben wurden bereits im Progressive Newsletter besprochen, sein aktuelles Werk wird in dieser Ausgabe vorgestellt. Um noch etwas mehr Einblick in die Welt des in Ungarn  lebenden Briten zu bringen, stellt er sich und seine Musik in diesem Heft mal ausführlicher vor. Auch er übrigens mit seiner Antwort (siehe auch Akos/Tabula Smaragdina) rekordverdächtig schnell! Unterstützung bei diesem Interview bekam ich übrigens von einem guten  Freund aus Rumänien, Enyedi Zsolt, selbst ein arrivierter Tastenmann – und da haben wird dann auch gleich noch eine Querverbindung zu Akos.

Hallo Dave, stell Dich bitte mal vor und erkläre den Lesern des Progressive Newsletter, welche Art von Musik sie von Computerchemist zu erwarten haben.

Hallo Jürgen, ich heiße Dave Pearson, als Soloartist bekannt unter dem Namen Computerchemist. Ich bin Engländer, der jetzt seit 2008 in Ungarn in Székesfehérvár (Stuhlweißenburg) wohnt. Hmm, welche Art von Musik die Leser erwartet? Ich möchte gerne die Grenzen dessen verschieben, was man unter „klassischer“ EM versteht. Auch wenn einige meiner Arbeiten in die Schublade „Berliner Schule“ gesteckt wurden, zeigt hoffentlich – wie ich finde – die Tatsache, dass meine Musik sowohl auf Rocksendern wie auch im Mainstream-orientierten Bereich – wenn „Mainstream“ das richtige Wort im EM-Bereich ist  – gespielt und auch in Jazz Magazinen rezensiert wurde, dass meine Musik etwas mehr zu bieten hat als ein „Durchschnitts“-EM-Werk.

Kannst Du uns etwas zu den einzelnen bisher veröffentlichten Alben sagen?
Mein erstes Album war „Atmospheric”, aufgenommen 2006, veröffentlicht 2007 (und in PNL 65 besprochen!). Ich entschied mich für eine sehr altmodische Herangehensweise an den Gesamtsound, aber es mag überraschen, dass alle Synthis, Sequenzerläufe und Schlagzeugparts in Wirklichkeit komplett software-basierte virtuelle Instrumente sind. Tatsächlich gibt es überhaupt nur 2 Titel, in denen eine „echte“ Gitarre gespielt wird. Das zweite Album, „Icon one“, ist ein Konzeptalbum, das sich mit den zwei normalerweise im Gleichgewicht befindlichen Gegensätzen von Entropie und Energie befasst, also die  „0“ und „1“ Zeichen, die wir auf allen Netzschaltern finden. Und es geht um die Tatsache, dass unsere Welt ungebremst immer mehr aus den Fugen gerät, da wir alle natürlichen Ressourcen aufbrauchen. Das dritte, „Landform“,  kommentiert die natürliche Schönheit unserer Welt, die tiefen Mysterien der Erde, wobei der zweite Titel des Albums, „Darklight drive”, umgekehrt die Sicht auf den Planeten vom All aus darstellt, zu sehen auf dem youtube video… Das vierte und bisher letzte Album, „Aqual measure“, ist  eine Reise ins Element Wasser. Es war eine ganz bewusste Wahl, das Thema Wasser aufzugreifen, nachdem ich nach den Aufnahmen zu „Landform“ realisierte, dass ich anscheinend bisher unterbewusst auf die klassischen Elemente – Luft, Feuer, Erde,… – fokussiert hatte. Also war Wasser das logische nächste Thema.

Wie würdest Du Deine Entwicklung sehen, die Du vom Debüt bis zum aktuellen Album genommen hast?  
Es liegen nur 5 Jahre zwischen Debüt und „Aqual measure”, aber die Kommentare von Rezensenten wie auch Fans scheint klar zu sein: jeder scheint ein anderes Album zu favorisieren, und sogar viele unterschiedliche Tracks! Das finde ich großartig. Ich hoffe, das bedeutet, dass ich mich nicht allzu sehr nur auf eine musikalische Ausrichtung beschränke.

Was hältst Du von Progressive Rock und warum sollten Leser des PNL potenzielle Kandidaten sein, ein Computerchemist Album zu hören und zu mögen?  
Progressive Rock ist großartig. Die Musiker sind sie selbst, sie können machen, was sie wollen. Sie unterliegen keinen Beschränkungen einer Kommerz-Industrie oder müssen etwas auf eine bestimmte Art und Weise spielen. Und das kann auch zu einem Problem werden. Wenn ich mal an Progressive Rock als einen  eigenen Musikstil denke, wie z.B. ELP, Floyd oder Porcupine Tree. Progressive Rock wurde seinerseits von so vielen Formen beeinflusst wie improvisiertem Jazz, Psychedelic Rock, Metal, Klassik – was auch genauso umgekehrt gilt – so dass die Grenzen, was jetzt genau Progressive Rock ist, zumindest für mich nicht klar definiert sind. Ich denke auch, dadurch dass meine musikalischen Einflüsse so breit gestreut sind, und meine Instrumentierung auch rock-orientiert ist, dass dadurch auch ein „Hardcore” Progressive Fan etwas an meiner Musik finden kann, was er mag. Zumal ich mir diverse Elemente aus diesem riesigen Genre geborgt habe.

Welche Bands / Künstler hatten den größten Einfluss auf Dich? Kann man dies auch auf Deinen Alben heraushören?
Ohne jeden Zweifel hatten die Mitte-End-70er Tangerine Dream den größten Einfluss auf mich, dicht gefolgt von – in beliebiger Reihenfolge – Klaus Schulze, King Crimson, ELP, Manuel Göttsching, Ashra, Agitation Free, Floyd, David Gilmour, Jah Wobble, Mike Oldfield, Hawkwind, Bill Laswell, After Crying und Csaba Vedres’s Soloarbeiten, The Mars Volta, frühe Genesis, Steve Hackett…. Ja, ich glaube, das hört man gelegentlich raus. Zumindest sagen mir das meine Hörer!

Auf dem aktuellen Album taucht als Gastmusiker ein Deutscher namens Uwe Cremer auf. Wie kam es dazu?
Er nahm vor ein oder zwei Jahren über myspace Kontakt mit mir auf. Er hat ein eigenes Solo Projekt namens Level Pi. Sein Stil faszinierte mich – manchmal ist es sehr gitarren-orientiert, dann wieder hat es starkes Krautrock-Feeling. Wir blieben in Kontakt, und als ich beim Schreiben des Titelsongs von „Aqual measure“ bemerkte, dass ich eine Gilmour-artige Gitarre brauchte,  schlug ich Uwe vor, sich ein paar Gedanken diesbezüglich zu machen. Ich schickte ihm den Rohmix übers Internet zu. Die ursprüngliche Idee war, zum Ende  hin einen kleinen Gitarrenpart einzubringen, aber dann stellte ich fest, dass das, was Uwe mir schickte, viel besser war als ich zu hoffen wagte. Und genau so findet ihr es dann auch auf dem Album.

Wirst Du auch bei den nächsten Alben mit Gastmusikern arbeiten? Könntest Du Dir sogar vorstellen, in einer Band zu spielen oder in einem Projekt involviert zu sein?
Ja, sicherlich! Ich schaue mich immer nach interessanten Musikern um, mit denen ich zusammen arbeiten könnte. Auf „Landform“ zum Beispiel tritt ein Cellist in den Teilen 1 und 5 von „Darklight
drive“ auf, und ich denke, dies gibt dem Ganzen noch mal eine besondere Note. In einer Band zu arbeiten, kann aber schnell problematisch werden, besonders wenn es dominante Egos gibt. Ich möchte nicht rumdiskutieren, ich möchte nur spielen! Mitarbeit bei Projekten kann ich mir gut vorstellen. Im Moment arbeite ich aus der Ferne an zwei Projekten mit. Das eine ist mit Uwe Cremer an einem potenziellen neuen Albumkonzept, das andere ist in Verbindung mit einer Art Lesung ein eher noch progressiverer Ansatz. Vielleicht kommt dabei ein Album heraus, eventuell wird es auch live aufgeführt.

Zu welchem Zeitpunkt werden Gitarrenparts komponiert und arrangiert? Wird dies auf bereits vorhandene Synthigrundlagen aufgebaut, oder kommt erst der Gitarrenpart? Oder gibt es da keine bestimmte Reihenfolge – passiert es einfach?  
Für einen Track wie „Tantric race” bildete beispielsweise eine mit dem Echo synchronisierte  Bassgitarre – die wie ein Sequenzer klingt! – das Grundgerüst. Ich wollte etwas mehr Gitarren-orientiertes machen  und dabei die wesentlichen Elemente der Berliner Schule erhalten, das Ganze aber etwas experimenteller gestalten. Natürlich bin ich nicht der Erste, der dies probiert. Dieses Stück ist eine Art Hommage an Manuel Göttsching und sein fantastisches „Interventions“ Album. Also in der Tat, hier bildete die Gitarre den Grundrahmen für das Stück. Aber normalerweise kommt die Gitarre viel später, nachdem die Grundstruktur steht. Wenn man allein arbeitet, bedeutet dies, dass es schwieriger wird, wirklich spontan zu sein. Das ist zum Beispiel eine Sache, die das live Zusammenarbeiten mit Musikern so großartig macht – Ideen hin und her zu werfen und zu bearbeiten.
Üblicherweise beginne ich mit einer einzelnen Spur nur mit einem Metronom –  „click track“ –, nehme Sequenzerparts hinzu, arrangiere Streicher und andere Akkordparts, identifiziere, wo ich Soli  einbringen möchte und welcher Art sie sein sollen – Gitarre / Solo Synthesizer – und zuletzt kommt
der Rhythmus hinzu. In diesem Fall ist der Rhythmus sozusagen eine Reaktion auf das, was die anderen Instrumente vorgeben. Da ich Drums live spiele, finde ich dies interessanter zum Anhören. Und am Ende entferne ich dann wieder alle Parts, die ich nicht drin behalten möchte. Es ist sehr, sehr leicht, zu viel  in ein Stück hineinzupacken, und du verlierst damit am Ende den Überblick. Das ist dann also wirklich das finale Arrangieren!

Wann begann Deine Leidenschaft für Elektronische Musik und wann hattest Du Dich entscheiden, eigene Musik zu komponieren und einzuspielen?
Irgendwann 79-80 hörte ich in England bei einer Late Night Radiostation Tangerine Dreams  „Cloudburst flight”. Zu dieser Zeit hörte ich meist Rock und Prog. Bands wie Rush, Genesis, Saga, Yes, ELP waren meine Favoriten. Aber „Cloudburst flight” hatte dann eine unglaubliche Wirkung auf mich ausgeübt. Vielleicht weil es TDs dem Prog am meisten nahekommendes Werk war. Aber in dem Moment, als ich dies hörte, wollte ich mehr davon. Ich entdeckte sehr schnell ihren riesigen Back-Katalog bis „Force Majeure“ und kaufte mir immer, wenn ich es mir leisten konnte, ein TD Album aus dieser Zeit. Und dann entdeckte ich noch Klaus Schulze… Ich verließ mit 16 die Schule und bekam einen Job in der Computerbranche. Also hatte ich da schon eine Menge eigenes Geld – für einen 16jährigen – und natürlich begann ich, Geld für einen Synthesizer zu sparen. Denn ich wollte auch
derartig wunderbare Sounds kreieren.

Mit welchem Equipment bist Du gestartet und womit arbeitest Du heute?
Mein erster Synthesizer war ein Yamaha CS-5. Im gleichen Jahr bekam ich auch eine „Satellite“ E-Gitarre zu Weihnachten. Also kaufte ich danach auch noch viele Gitarrenpedale. Ich habe einen einfachen Sequenzer nach eigenem Design konstruiert, der in der Lage war, Sequenzen bestehend aus
8 Noten wiederzugeben. Die Tonhöhe beeinflusste ich dabei mittels Drehknöpfen – und indem ich den Yamaha  mit Hilfe eines Gitarrenhallfußpedals spielte sowie etwas Phaser und ihn mit dem Sequenzer gesteuert habe, bedeutete dies, dass ich meinen ersten  „Berliner Schule“ Sound geschaffen hatte.    Danach kaufte ich ein ARP String Quartet, einen Roland SH-101, SH-09, Korg-Poly 61M, Roland S-10.
Ich spielte einen CMI Fairlight im Studio, und dann legte ich mir den S10 Sampler zu – nicht so teuer wie ein Fairlight! Das waren die wesentlichen Synthesizer, dazu einige einige Effekte aus einem extra – nicht zum Mischpult gehörigen – Rack, elektronische drum Maschinen, Gitarrenpedale und ein Yamaha Portastudio 4-track zum Aufnehmen. Man kann immer noch eine meine ganz frühen Kompositionen von 1984, „Sequence 1”, online hören, wenn man nach „Uwe Brameier’s KlangARTen Podcast #12/2010” sucht, ebenso auf meiner facebook Seite. Dies wurde mit zwei Cassettenrecordern – ich hatte zu der Zeit kein Multitrack – aufgenommen: SH-101, Korg Poly61M, und das ARP Quartet.  Aber heute – alle Synthesizer und das ganze Equipment – weg! Ich habe vor etwa 10 Jahren alles verkauft!  Das ist auch der Grund, warum ich den Namen „Computerchemist“ wählte. Weil meine ganze Musik heutzutage komplett innerhalb  eines Computers generiert und aufgenommen wird. Als einzige „reale” Instrumente sind die Beringher customised guitar mit Fender Lace Sensor Tonabnehmer und Sperzel „locking machine heads“ und eine Yamaha Langhals Bassgitarre übrig geblieben. Es gibt noch ein paar echte Gitarreneffekte – mit Wahwah Pedal und Compander – aber alle anderen Effekte und Sounds kommen aus dem Computer. Um die virtuellen Synthis zu spielen, benutze ich ein Keystation 88 Key Master Keyboard, eine Beringher BCF motorized control Oberfläche, und ein Yamaha DD11 Drum Pad für den Rhythmus. Und Cubase SX3 ist das Zentrum des ganzen Setups – und alles passt in einen Laptop.

Hast Du jemals „Live“ gespielt oder hast Du Pläne für Konzerte?
Ich spielte in den 80ern in Rockbands, bevor ich meine Solokarriere startete. Also habe ich live gespielt, aber mehr im Hintergrund. Jetzt schaue ich mich wieder um, live auftreten zu können – dann aber  mehr im Vordergrund!  Ron Boots von Groove hat mich eingeladen, auf dem E-Live 2010 zu spielen. Darauf freue ich mich schon, und vielleicht kann ich mich einigen näher bringen, die Computerchemist bis dato noch nicht kannten.

Was bedeutet „Live” für einen EM Künstler, speziell bei einem 1-Mann-Projekt? Wie lässt sich das arrangieren?
Da ich eher „traditionelles” Rockinstrumentarium benutze, wäre für mich das ideale Live-Line-Up: Drummer / Percussionist, Gitarrist, 2 Keyboarder und ein VJ. Ich denke, bei Konzerten ist das visuelle Element für diese Art von Musik sehr wichtig. Also, in einer idealen Welt würde mein 1-Mann-Projekt eher wie ein normales Band Line-Up aussehen. Zumindest bräuchte ich live aber einen Drummer. Bei
E-Live wird  Harold van der Heijden Schlagzeug spielen. Ich habe von einigen EM Bands gelesen, die viel mit „playbacks“ arbeiten müssen, was sicherlich nicht ideal ist. Steht man aber alleine auf der Bühne, dann gibt es natürliche Grenzen, was man live bedienen kann. Und ich bin mir nicht im Klaren, wo die Definition von „playbacks“ endet und „Sequenzerläufe“ beginnt. Speziell, wenn der ganze Titel bereits als digitale Sequenz im Computer gespeichert ist.

Was sind deine Favoriten – in der EM- und in der Prog-Szene?
Tangerine Dream – „Force  Majeure”, „Cyclone”, ELP – „Brain Salad Surgery”, Rush – „2112”, The Mars Volta – „Frances the Mute”, Klaus Schulze – „Moondawn”, „Timewind”, Ash Ra / Manuel Göttsching – „Inventions For Electric Guitar”, After Crying – „Overground Music”, Agitation Free – „Malesch”, Steve Hackett – „Spectral Mornings”, Pink Floyd – „Wish you were here”, „Dark Side of the Moon”, Hawkwind – „Levitation”, Van der Graaf Generator – „Vital”, Marillion – „Misplaced Childhood”, Genesis – „Nursery Cryme“, Kraftwerk – „Autobahn“, Gong – „You“, Harald Grosskopf – „Synthesist“

Was macht für Dich gute elektronische Musik aus, was sind die Kriterien?
Es muss interessant klingen, abwechslungsreich sein, mit einem Dynamikumfang, der das Interesse halten kann. Es gibt nichts Schlimmeres als  ein einzelner Akkord oder ein Akkordmuster, das sich immer wieder wiederholt. Das größte Problem mit Computergenerierter Musik ist, dass es so einfach ist, eine oder 2 Takteinheiten zu nehmen und 300 mal mit Copy und Paste zu verarbeiten und daraus ein ganzes Album zu machen. Für mich hat qualitätsvolle elektronische Musik einen fließenden Start, gefolgt von einer stark rhythmusbetonten Sequenz mit subtilen Veränderungen. Danach vielleicht etwas Perkussion in Ergänzung zu den Sequenzen, aber nur ergänzend,  nicht dominierend. Dann noch eine wohl tarierte Portion Soloarbeit, oder aber auch völlig ohne Solo, stattdessen wird die Klangfarbe und die Intensität der Sequenz variiert. Vielleicht einen etwas langsameren Abschnitt in der Mitte, das schließlich zum Ausgangsmotiv zurück führt. Und gegen Ende dann wieder einen leichten Rückschritt zum langsamen, fließenden, formlosen Stil vom Beginn. So sieht für mich eine gute Komposition aus. Und bloß nicht einfach nur die Sequenzersektion am Ende ausblenden, das ist dämlich.

Darf man nach Deinem Alter fragen bzw. wie ist Deiner Meinung nach die Korrelation zwischen progressiver und/oder elektronischer Musik und den verschiedenen Generationen?
Ich denke, das ist eine interessante Frage. Ich bin Jahrgang 1964 und offensichtlich sind viele Leute, die sich auf Facebook auf meiner Seite gemeldet haben, etwa in meinem Alter, egal ob Fans oder Musiker. Natürlich nicht alle, aber doch ziemlich viele, so meine Beobachtung. Keine Ahnung,
ob dies bedeutet, dass auch sie mit dieser Musik groß geworden sind und von daher auch  jetzt diese Art von Musik hören. Aber es gibt sicherlich auch jüngere Zuhörer. Das ist ermutigend, denn dann stirbt diese Musik hoffentlich nicht aus. Ein anderer wichtiger Punkt: ich denke, dass Vieles aus der  EM-Szene nicht so veraltet oder altmodisch klingt – für meinen Geschmack zumindest – wie in anderen Musikszenen. Für mich klingt Kraftwerks „Autobahn“ heute noch genauso erfrischend wie 1974. Und ich denke, Derartiges gilt auch in gewissem Maße für Prog im Allgemeinen, auch wenn hier noch gerne das Instrumentarium aus dieser Zeitperiode benutzt wird. Früh-70er Prog hat  beispielsweise viel Hammondorgel, 80er Prog hat viel Simmonds Drums (arrrgh!).

Kann man erst ab einem gewissen Alter derartig tiefgreifende Musik richtig erfassen?
Ich denke, wenn man jünger ist, tendiert man eher dazu, Mainstream-Musik zu hören. In den Geschäften werden fast nur die Top 50 Alben verkauft und die Medien konzentrieren sich mehr auf Pop als auf andere Genres. Wenn man solch einer Umgebung ausgesetzt ist, realisiert man möglicherweise gar nicht erst, dass es auch noch etwas Anderes gibt. Der Wendepunkt kam für mich recht früh. Um Deine Frage zu beantworten, nein, ich denke nicht, dass es hierfür ein Minimalalter gibt. Aber wenn man älter wird, hört man sich eher auch andere Arten von Musik an und beginnt, auch diese mehr anzuerkennen als man dies früher tat. Vielleicht müssen die Leute einfach nur aufwachen, um zu erkennen, dass das moderne Förderband der Popmusikindustrie nicht das einzige auf der Welt ist.

Wie sieht es in der Elektronischen Musik in Sachen Urheberschutz aus?  Wie kann derartig improvisationsbestimmte Musik überhaupt geschützt werden? Kannst Du z.B. etwas erwarten von ASCAP, GEMA bzw. Dem ungarischen Pendant ARTUSJUS?
Da wird EM nicht anders behandelt als andere Musik auch. Der Komponist erhält automatisch die vollen Urheberrechte an seiner Musik, sobald diese aufgenommen bzw. orchestriert wurde. Also einfach nur ins Register eintragen lassen bzw. die Musik mit Deinem Copyright und Deinem Namen
veröffentlichen, das ist alles. Was die AufführungsrechteOrganisationen betrifft, bin ich komplett gegen derartige Organisationen. Ich habe viele Horrormeldungen gelesen über Familien, die von solchen Agenturen schikaniert und in den Bankrott getrieben wurden, nur weil sie irgendetwas gehört
haben – etwas, das sie von jemand Anderem kopiert haben könnten. Meine Güte, seit wann ist das Hören von Musik ein krimineller Akt? Ich habe sogar von Wohltätigkeitsorganisationen gehört, die in Küchen Suppen verteilten und dabei Musik laufen ließen – ohne Lizenz. Sie wurden geschlossen, weil dies gemeldet wurde! Sie wagten es, Musik zu hören, während sie sich freiwillig und kostenlos um Arme kümmerten. Unglaublich! Ich denke, die Kriminalisierung gewöhnlicher Leute, die einfach nur Musik hören, ist der Punkt, wo der Staat völlig die Kontrolle über die allgemeinen Gesetze verloren und in die Hände einiger großer Organisationen gegeben hat. Versteht mich nicht falsch, ich unterstütze natürlich nicht die  Piraterie, aber ich möchte nicht mit derartigen Organisationen in Verbindung gebracht werden, die angeblich in meinem Namen handeln. Jeder hat sich mal ein Album von einem Freund ausgeliehen und kopiert. Das ist doch eine feine Sache, Musik zu hören, die man ansonsten vielleicht gar nicht wahrgenommen hätte. Und wenn man es mag, kann man das Album – oder ein anderes des Artisten / der Band – kaufen, oder man schaut sich den/die Künstler live an. Und wenn es nicht gefällt – nun, dann hätte man sich das Album eh nicht gekauft. So sehe ich das Ganze. Und dieser Gesellschaftswahnsinn muss aufhören.

Speicherst Du Deine Musik auch in Noten ab? Oder, wie es sich für ein echtes Computer-Alchemisten Labor gehört, haben die digitalen Aufnahmesessions das Sagen?
Ja, genau das ist es, ein echtes Computer-Alchemisten Labor! Die Arbeit wird am Computer entwickelt, wird dort gemixt, wird dort gemastert. Ich benutze Noten für Instrumentalparts, wenn ich mit anderen Musikern arbeite. Zum Beispiel die Cello Parts in „Darklight drive“ oder das Tenorsaxophon auf „Icon Zero“. Ursprünglich sollte noch Jemand auf „Icon Zero“ spielen, aber es kam nicht dazu, und so habe ich tatsächlich den finalen Part mittels Sampler arrangiert.

Noch eine persönliche Frage: wie lebt es sich in Ungarn? War Dein Umzug berufsbedingt oder aus privaten Gründen? Wie fühlst Du Dich in dieser mitteleuropäischen „Kulturinsel“? Kannst Du von Deiner Musik leben oder ist diese kreative Arbeit Dein zweites Standbein?
Ich hatte viele Jahre einen äußerst lukrativen Job in der IT Branche bei einer FTSE 100 Firma in England. Ich ging jeden Wochentag zur Arbeit, kam abends nach Hause, und das das ganze Jahr über. Ich war viel unterwegs und habe keinen einzigen Moment genossen. Irgendwann muss ich dann aus dieser Monotonie erwacht sein und habe mich gefragt, warum ich dies mache, anstatt das Leben zu genießen. Also habe ich meinen Job geschmissen, unser Haus in England verkauft und bin mit meiner Familie nach Ungarn gezogen. Ich arbeite nun rund um die Uhr an meiner Musik, also ja, das ist jetzt mein Beruf. Ich arbeite auch noch als Computer-Berater, aber das nur nebenher. Der Hauptgrund,
warum ich aus England weggezogen bin, waren die sich immer mehr in die Höhe schraubenden Lebenskosten. Man verdiente viel Geld, nur eben gerade mal alle Rechnungen bezahlen zu können, ohne dabei etwas Geld zurücklegen zu können. Das war verrückt. Also habe ich alle Darlehen
abbezahlt, kaufte eine Wohnung in Székesfehérvár und einen kleines Plätzchen auf dem Lande, und hatte danach sogar noch ein bisschen Geld auf dem Konto. Und jetzt bin ich glücklich mit meinem Leben. Ich muss nicht zur Unzeit frühmorgens aufstehen, wissend, dass ich nicht machen kann, was ich will– stattdessen kann ich mich jetzt darauf konzentrieren, was ich aus meinem Leben machen kann.

Wie sieht es mit der ungarischen Musikszene (progressive bzw. elektronische Musik) aus?
Die ungarische „Szene“ – es gibt hier viel mehr unterschiedliche Musik als Du in England  finden wirst. Und sehr viele Talente!  Auch viele Live Shows, und das schließt tatsächlich die EM-Szene wie auch die Prog-Szene ein! Also ja, das ist hier viel lebendiger als in UK, speziell für so Randerscheinungen wie die elektronische Musik.

Was sind Deine Pläne für die Zukunft? Wann wird es ein neues Album geben?

In diesem Jahr wird es kein neues Album geben. Aber schaut nach Neuigkeiten auf meiner Webseite, was die anderen Projekte betrifft. Das nächste Computerchemist Album wird es voraussichtlich Ende 2011 geben. Ich werde beim E-Live 2010 sein, und hoffe, euch dort zu sehen. Außerdem versuche ich jetzt aktiv, andere Auftrittsmöglichkeiten in Europa für 2011 zu finden.

Noch irgendwelche Anmerkungen oder Kontaktadressen für Computerchemist Fans?
Schaut euch meine Website an: www.computerchemist.com – dort gibt es auch einen Link zu meiner Facebook Fanpage, wo ich sehr gerne eure Kommentare sehen würde! Wer mir eine Mail schicken möchte, benutze bitte dave@computerchemist.com – Ich werde alle Mails beantworten – es kann allerdings schon mal etwas dauern.  Ich würde gerne abschließen mit den Worten von Bruce Gall, DJ
von ARFM’s „Sunday Synth”, der folgendes über meine Musik schrieb: „Whether you are a metal, rock or EM fan…. the best feeling is being nudged into a style of music that you didn’t really know was there. And when you hear it…describe that feeling!”  JM

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